Moralpredigt über Glocken

Frau Susanne B. schreibt uns: «Weshalb und seit wann zählt die kirche die zeit, schlägt sie uns viertelstündlich um die ohren und ruft zu essenszeit und feierabend? Suchen wir doch in unserer geistigen/geistlichen entwicklung eher das zeitlose, ewige…»

Bei einer derart schön komponierten und in gemässigter Kleinschreibung formulierten Frage tut es uns umso mehr leid, dass wir Sie zuerst korrigieren müssen, Frau B. Die Zeitsignale kommen zwar vom Kirchturm her, aber es ist nicht die Kirche, die sie uns um die Ohren schlägt. Der Stundenschlag erfolgt in einem «weltlichen Kontext». So steht es in einer Handreichung der reformierten Berner Kirche. Das heisst: Wird ein Gottesdienst eingeläutet, läuten die Glocken kirchlich, werden sie hingegen am Nationalfeiertag in Schwung gesetzt, ist ihr Geläut profan. 

Wir wollen Sie aber nicht zurechtweisen, Frau B., nein, Sie sollen bei uns Bestätigung finden und wenn nötig Trost. Darum geben wir Ihnen sogleich wieder recht. Wie soll man als eher der Stille zugeneigte Laiin Dinge unterscheiden, die sich nicht unterscheiden lassen? Wenn die sechs Glocken der Stadtkirche Burgdorf an Silvester volles Rohr weltlich läuten, tönt das genau gleich, wie wenn sie an Heiligabend volles Rohr kirchlich läuten. 

Tatsache ist: Ein Kirchturm mit seinen tonnenschweren Glocken ist eine leistungs­starke Soundmaschine. Wer hier die Kippschälterchen in der Sakristei umlegen darf, kann ein ganzes Dorf mit Schall überziehen, kann Gottesdienste und besondere Tage ein- und ausläuten und darüber hinaus so etwas wie lokale Push­nachrichten absetzen: Jetzt Taufe. Jetzt Hochzeit. Heute hoher Geburtstag. Jetzt Abdankung. Und besonders neckisch: Die Nachrichten gehen an alle. Also nicht nur an Abonnentinnen und Abonnenten, die einmal Ja gesagt haben zum Angebot.

Es geht um Aufmerksamkeit, Frau B. Um was sonst? Mächtige Türme, grosse Glocken. Bimbambimbam. Hierher bitte, nicht dorthin. Es ist das Prinzip des Lebens. Wer am lautesten röhrt, ist am Ende der Platzhirsch. Wer bloss Behaglichkeitslaute von sich gibt wie ein Hirschkalb beim Säugen, hat nichts zu melden. Die Welt ist durchdrungen von Schreien – und schreiender Ungerechtigkeit.

Unsere gewagte These: Selbst wer lieber im Töpferworkshop des Haus­besetzer:innen­kollektivs sitzt als in einem Audi mit superlautem Auspuff, sucht die Besonderheit. Für uns, die wir fast alles durchschauen, ist sogar exzessives Schweigen nichts weiter als eine ausgeklügelte Form des unerbittlichen Kampfes um Anerkennung. Vermutlich träumen nicht einmal Schweigemönche und Schweigenonnen vom Ewigen in der zeitlosen Stille – sondern von fulminanten Auftritten in Talkshows. Nur dürfen sie das niemandem sagen. 

Askforce Nr. 1091
18. September 2023