Es gibt Fragen, deren Beantwortung von der Askforce viel geduldige Nachsicht abverlangt, weil sie Offensichtliches und allgemein Bekanntes betreffen. Eine solche Frage erreichte uns im Nachsatz einer Zuschrift von Hanspeter Z. aus Bern: «PS. Sollte die Schweiz nicht gegen die kulturelle Aneignung vorgehen?»

Selbstverständlich gilt: Ja, das Phänomen kultureller Aneignung ist auch in der Schweiz – und für die Schweiz – ein Thema. Allerdings gehen die meisten Schweizerinnen und Schweizer heute recht gelassen mit der Tatsache um, dass urschweizerische Traditionen von kulturfremden Kreisen vereinnahmt wurden.

Wir denken dabei etwa an den über ein halbes Jahrtausend gelebten helvetischen Brauch der Reisläuferei. Zur korrekten Grundausstattung des Reisegepäcks eines Schweizers gehörten ja – wahlweise – die Hellebarde, die Lanze, der Zweihänder, der Vorderlader. Denn Reisen hiess Schlachten. Interessant war bei dieser Früh­form des schweizerischen Tourismus, dass der Reisende nichts zahlte (ausser eventuell mit dem Leben), sondern bezahlt wurde. Spätestens mit der 1972 erfolg­ten Einführung von Interrail wurde das Bezahlsystem umgekehrt: Wer reist, zahlt.

Zurück zum Söldnerbrauchtum: Es war schliesslich der Vatikan, welcher sich mit letzter Konsequenz die Schweizer Söldnerkultur aneignete und zugleich als gelb-blau-roten Ethno-Kitsch folklorisierte und banalisierte. Er tat dies sehr erfolgreich: In der Schweiz selbst ist das kostümierte Hellebardentragen gänz­lich aus dem Alltag verschwunden – ebenso die ursprüngliche helvetische Art der Konflikt­bewältigung (mit – wahlweise – Hellebarde, Lanze, Zwei­händer oder Vorderlader). Den Höhepunkt dieser kulturellen Verarmung erfuhr die Schweiz 1815, als Europas Grossmächte ihr die Neutralität verordneten. Ein anhaltendes Trauma, wie die stets neu aufflammende Neutralitätsdebatte zeigt!

Nicht selten reagieren Opfer kultureller Aneignung damit, dass sie zu Tätern werden und sich ihrerseits kulturelle Werte anderer aneignen. Das lässt sich bei günstigen Wetterbedingungen zum Beispiel an 1. Augusten feststellen. Dann wird in der Schweiz das Abbrennen von Feuerwerk – eine während der Song-Dynastie in China perfektionierte Luftverschmutzungstechnik – gerne als «Schweizer Volksbrauch» tradiert. Schweizer Reisläufer taten so etwas nie.

Noch unerforscht ist das Feld interkantonaler kultureller Aneignungen. Diese sind sehr heikel, weil sie den kultur- und identitätsstiftenden Kantönligeist zersetzen können. Wir beobachten bereits: Wenn Berner:innen in Bern Baslerleckerli kaufen, Zürcher:innen in Zürich die Gelateria di Berna belagern und Basler:innen in Basel Zürigschnätzlets verzehren, kann sich ein Unwohlsein einstellen.

Vor allem dann, wenn man es mit den verzehrten Mengen nicht im Griff hat.

Askforce Nr. 1033
15. August 2022