Tintenschmerz

Frau Broccoli fragt: «Ich habe keine Tattoos. Bin ich nun hoffnungslos veraltet oder avantgardistisch?» Nun, liebe Frau Broccoli, aus Sicht der Anhängerschaft der dauerhaften Körperbemalung sind sie zuallererst eine gigantische Ressourcenverschwenderin. Immerhin besitzen sie eins Komma fünf bis zwei Quadratmeter Haut. Eine lebendige Leinwand, die sie ungenutzt runzlig werden lassen – anstatt sie zu verzieren mit Mandalas am Handgelenk, selbstironischem Seemannskitsch am Fussgelenk oder den chinesischen Schriftzeichen für «Einmal aufgetaut, nicht wieder einfrieren» über dem Herzen (oder glauben Sie wirklich, dass Hene von der Tätowierstube «Tintenschmerz» seine aus dem Internet geklauten Vorlagen von einer Muttersprachlerin verifizieren lässt? Eben.)

«Tattoos sind keine Verzierung», werden jetzt vermutlich die in der Wolle gefärbten Tätowierten entrüstet rufen, während sie sich ihre entzündeten Gliedmassen reiben. «Jedes Tattoo erzählt eine Geschichte.» Mag sein. Blöd nur, dass die meisten Leute nichts zu erzählen haben. Sich die Namen und Geburtsdaten seiner Kinder auf die Unterarme zu stechen, zeugt jedenfalls nicht von erzählerischem Talent. Eher von einem grandios schlechten Gedächtnis.

Und überhaupt: Unser Leben schreibt sich doch ganz von selbst in unseren Körper ein. Wozu braucht es da noch Nadel und Tinte? Die prägendsten Ereignisse hinterlassen so oder so ihre Spuren: Lachen und Sorgen zerfurchen unsere Gesichter, Narben erzählen von schwierigen Geburten und überstandenen Krankheiten. Dass unsere Körpergeschichten, so unterschiedlich sie sein mögen, am Schluss alle auf dasselbe absehbare Ende hinauslaufen, ist übrigens einfach dem Genre «Leben» geschuldet. Das ist in Sachen Ende herrlich einfallslos.

Aber das wollten Sie ja alles gar nicht wissen, Frau Broccoli. Sondern ob Sie hoffnungslos veraltet oder avantgardistisch sind. Wir sagen: Wahrscheinlich beides, einfach nicht gleichzeitig. Oder wie der schon in der Bibel erwähnte Tätowiervorlagenersteller Kohelet wusste: Alles hat seine Zeit. (Falls Sie sich diesen hübschen Sinnspruch übrigens auf Chinesisch hinter die Ohren schreiben lassen wollen, ist das hier die Stechvorlage für Hene: 凡事皆有其 )

Im Übrigen hält sich die Askforce an die Devise: Tinte gehört aufs Papier. Dort geht sie im besten Fall tiefer unter die Haut als im Tattoostudio.

Askforce Nr. 1197,
1. September 2025