Klasse Gesellschaft

Willy S. aus Sevilla will wissen: «Was ist ein Erstklasspassagier in einem Transportmittel ohne Zweitklasspassagiere?» Rein statistisch gesehen: ziemlich unwahrscheinlich. Aber mit dieser zweitklassigen Antwort wird sich Willy wohl zu Recht nicht zufriedengeben. Denn seine erstklassige Frage berührt den Kern unseres Menschseins: Wer bin ich? Und brauche ich dazu die anderen?

Holen wir aus: Was kauft sich ein Mensch mit seinem Erstklassbillett, das bei den SBB rund 40 Prozent mehr kostet als eines für die zweite Klasse? Tatsächlich nur mehr Beinfreiheit, ein Tischchen für den Laptop und eine eigene Steckdose? Dann kann es ihm herzlich egal sein, ob die zweite Klasse leer ist – er ist sich selbst genug.

Oder geht es bei der Wahl der 1. Klasse um mehr, nämlich um die Distinktion? Also die bewusste Abgrenzung vom zweitklassigen Pöbel, der seine Reise in der – so vermuten Erstklassreisende – Hölle der 2. Klasse zwischen Döner mampfenden Teenagern, müffelnden und süffelnden Rentnerwandergruppen und quengelnden Kleinkindern erdulden muss? Ein solcher Erstklässler muss sich zwangsläufig als Gelackmeierter fühlen, wenn es keine Zweitklassreisenden gibt. Denn diese sind ja das Sine-qua-non (klassisches Latein, auch so ein Distinktionsmerkmal) für seine Identität. Sein Selbstwertgefühl nährt sich vom (vermuteten) Neid der zweitklassig beförderten Mitreisenden – die allerdings, das nur nebenbei, gleichzeitig und am selben Ort ankommen wie die Erstklässler. Ganz zu schweigen davon, dass man auch in der 2. Klasse in klasse Gesellschaft unterwegs sein kann.

Wie soll man sich besser fühlen, wenn es keine anderen gibt, denen es schlechter geht? Damit sind wir von den SBB-Zügen in nur einer gedanklichen Haltestelle  zum Zustand der Welt gekommen, wo sich die fundamentale Ungleichheit zwischen Menschen und Ländern nicht so einfach überwinden lässt wie im Intercity von Genf nach Zürich, wo ein Klassenwechsel für ein paar Franken reicht.

Um es mit einem anderen Bild zu versuchen: Vergällt es einer Penthouse-Bewohnerin die wunderschöne Aussicht, wenn das Souterrain unbewohnt ist? Ist die Ungleichheit Voraussetzung für ihr Glück? Oder würde sie den freien Blick vielleicht sogar doppelt geniessen, wenn sie den ganzen Block zum Sundowner auf ihre Terrasse einladen würde und die Kellerkinder in ihren Pool?

And now, wie Monty Python zu sagen pflegten, for something completely different: Wieso kauft sich ein Oberleutnant ein Generalabonnement? Er will befördert werden.

Askforce Nr. 1194,
11. August 2025