Die Gedanken sind (blei-)frei

«Was denken sich die Leute, wenn sie an Ostern oder Pfingsten gen Süden fahren, und was denken sie, wenn sie dann im Stau stehen?» Diese Frage hat sich bei Frl. A. Zoccoli aufgestaut. In Erwartung einer flüssigen Auflösung derselben wendet sie sich an die Askforce, überzeugt, dass dieser «selbst das Gedankenlesen nicht schwerfällt».

Liebe Fragerin, als Kind der Aufklärung lässt die Askforce die Finger von Pseudowissenschaften wie dem Mentalismus. Und der Gotthardtunnel ist zwar eine Röhre, aber kein Magnetresonanztomograf, weshalb uns die Hirnströme der Gestauten verborgen bleiben. Verkehrstüchtig genug ist die Askforce aber allemal (davon zeugt ein vergilbter Veloprüfungswimpel), um sich gedanklich in die Blechlawine am Gotthard einzufädeln.

Trefflich liesse sich im Stau sinnieren über die Conditio humana, über Schicksal und Selbstbestimmung, verpasste Ausfahrten, das Wunderwerk des menschlichen Harnschliessmuskels und den Einfluss von Sitzheizungen auf denselben. Oder über das schöne Paradox, dass, wer im Stau steht, meistens sitzt. Wo sonst findet man in der Hektik des Alltags Zeit zum Nachdenken, wenn nicht im Stau? Wenn die Räder stehen, die Gedanken drehen.

Leider steht am Anfang jeden Staus die Gedankenlosigkeit. Und auch an jeder anderen Stelle in der Kolonne. Weshalb wir mit Fug und Recht vermuten, dass sich das durchschnittliche helvetische Gedankenstauprotokoll ungefähr so liest: 1. Ich stünde nicht im Stau, wenn der Idiot vor mir nicht wäre. 2. Wenigstens kommt die Angestaute hinter mir eine Offroader-Länge später im Süden an.

Kaum je blüht die Einsicht auf, dass, wer im Stau steht, nicht Opfer ist, sondern Täter. Was uns annehmen lässt, dass Leute in Autos im Allgemeinen und Stauerinnen und Stauer im Speziellen gedanklich eher auf dem Pannenstreifen unterwegs sind. Oder gefangen im Kreisel des egoistischen Optimismus, dessen Prämisse lautet: Das nächste Mal wird’s besser, auch wenn ich unverändert weiterfahre.

Oder wie erklären Sie sich, liebes Fräulein Zoccoli, dass im Radio zwar vor Geisterfahrern gewarnt wird, aber nie vor grossen Geistern auf der A2? Würden Autofahrende nachdenken, hätten sie sich ja denken können, wo ihre Autofahrt endet, und wären in den Zug gestiegen. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass Werner Belmont eine tiefe menschliche Weisheit auf den Punkt brachte, als er in den 1950er-Jahren für die Schweizer Bundesbahnen den Slogan prägte «Der Kluge reist im Zuge». Aber das haben Sie sich bestimmt schon gedacht. Oder?

Askforce Nr. 1196,
25. August 2025