Frl. Z. aus B. stellt uns eine sehr schlichte Frage: «Wozu ist Neutralität?»
Wir sind froh, können wir das hier gründlich klären. Dazu fangen wir ganz vorne an und fragen uns zunächst: Was ist Neutralität?

Neutralität ist ein Wort, ein Substantiv, aber ein spezielles. Anders als die Wörter «Apfelschorle», «Nagelschere», «Stalinorgel» oder «Kinderschokolade» umschreibt N. nichts Feststehendes oder Fassbares. Das Spezielle ist nämlich, dass die N. funktioniert wie die kleine, tapfere Dampflokomotive einer hölzernen Brio-Eisenbahn: Sie zieht etwas nach sich – und um dieses Etwas geht es. Wir verstehen das gut: Erst dank den angehängten Wagen wird aus dem Ganzen ein Zug – je nach Wagen ein Zug unterschiedlicher Art. Eine Lok, die nichts zieht, ist noch kein Zug.

Als sprachliche Lokomotive zerrt die N. also selbstlos unterschiedlichste Adjektive in den Fokus. Einige wenige Beispiele müssen hier zur Illustration genügen:

Wir kennen die von Grossmächten verordnete N. (Wiener Kongress, 1814/1815), die differen­tielle N. (Schweiz, 1920; die «Dabeisein-wollen-aber-nicht-Mitmachen-müssen-Neutralität»), die selektive N. (ab 1938, «Man-wird-doch-wohl-noch-Geschäfte-machen-dürfen-Neutralität»), die zeitgleich propagierte integrale N. (Bundesrat Giuseppe Motta, 1938), die solidarische N. (Ungarn 1958, Tschechoslowakei 1968), die aktive N. (Calmy-Rey, 2003–2011), die inaktive N. (Ignazio Cassis, Bern, Februar 2022), die kooperative N. (Ignazio Cassis, Davos, Mai 2022) und natürlich die immerwährende, umfassende, bewaffnete, blochersche N. (Christoph Blocher, 1291­–∞)

In der Summe führt dies zur so genannten immergärenden Neutralität. Ihr Hauptmerkmal ist eine alles andere als neutral geführte Dauerdebatte, bei der es nie um die N. an sich geht, sondern eben ums Adjektiv, das die N. mit sich zieht.
In der Folge stehen sich verschiedene neutrale Lager spinnefeind gegenüber, was eher nicht der Kernidee von Neutralität im ganz volkstümlichen Sinn entspricht. Zum Beispiel sind sich Micheline Calmy-Reys «aktive N.» und Ignazio Cassis’ «kooperative N.» sehr ähnlich. Aber beide möchten unbedingt betont haben, es handle sich um etwas ganz Unterschiedliches.

Fazit: Die Neutralität, Frl. Z., ist dazu da, leidenschaftlich zu diskutieren, bis das Problem, zu dem man Stellung beziehen möchte, vorbei ist. Wir erahnen dies bereits bei der neusten Strömung, der atomaren Neutralität. Sie hat grossen Rückhalt im Umland der AKW Beznau I und Beznau II, die beide mit Uran aus Russland betrieben werden. Hier fordern neutrale Denker, neue Atomkraftwerke zu planen, um so die Energieabhängig­keit von Russland zu vermindern. Besonders die immer neutralen Neutronen strahlen ob dieser Logik: It’s smart, it’s politics!

 

Askforce Nr. 1042,
17. Oktober 2022