Young Liberal Rhapsody

Erst das Rentenalter auf 66 anheben und es dann an die Lebenserwar­tung koppeln: Das will die Renten-Initiative des Jungfreisinns. Warum das so sein muss, legten die Initianten unlängst mit einem einzigartigen Gedicht dar. Es trägt den schlichten Titel «Alters- und Hinterlassenenver­sicherung (AHV), * Januar 1948, † Juni 2023» und erreichte als Zeitungsbeilage Zehntausende helvetische Briefkästen:

In tiefer Trauer und voller Schmerz,
die AHV liegt in Trümmern, ohne Erbarmen, ohne Herz.

Unsere Parlamentarier, sie sehen es nicht,
das Problem der AHV, das drängt und spricht.

Die Zukunft der Altersvorsorge in Gefahr,
unsere Gesellschaft, sie steht vor einer Narbe wahr.

Lasst uns zusammenstehen, für die Würde der Alten,
die AHV braucht Rettung, wir dürfen nicht verwalten.

In Gedenken an die AHV, einst so stolz und stark,
lasst uns kämpfen, geben ihr Leben einen neuen Mark.

Möge sie wieder aufblühen, erstrahlen im Licht,
damit unsere Zukunft gesichert ist, in unserer Pflicht.

Ergriffen und um Einordnung bittend, legte Leser Peter S. aus Bern dieses Werk zeit­genössischer Lyrik schliesslich der Askforce vor. Gehen wir’s an! Zunächst erkennen wir, wie gekonnt der Jungfreis:inn mit Versmassen spielt, die jede renten­berechtigte Junggreis:in noch aus dem strengen, frontalen Deutsch­unter­richt kennt: saubere, volksnahe Endreime (Schmerz–Herz, Licht–Pflicht) und solide Allitera­tionen («stolz und stark»). Die äussere Form ist dagegen sehr liberal gehalten. Es liegt hier also eine moderne Rhapsodie vor, ein ekstatisches, balladen­haftes Gedicht in freier Gestaltung: eine Young Liberal Rhapsody.

Aber lassen wir das Formale, denn im Inhalt ruht die zu entdeck­ende, tiefere Wahr­heit. Zu Beginn der Rhapsodie ist die AHV ja exakt datiert tot: † Juni 2023. Nach­weis­lich existiert die AHV aber auch heute noch. Warum? Weil sie durch eine Art dichterischer Transplantation («Geben ihr Leben einen neuen Mark») untot wurde. Und für die nun untote AHV gilt: «Wir dürfen nicht verwalten». Das heisst schlicht: «An die Lebenserwartung koppeln» darf nicht als Verwaltungsakt verstanden wer­den, denn in der libe­ralen Welt ist Lebenserwartung immer total individuell; ergo ist das Rentenalter an die eigene, individuelle Lebenserwartung zu koppeln.

Wer also künftig nachweislich einen ausschweifenden Lebenswandel führt, kalo­rien­reiche Speisen und angereicherte Getränke mag und unangegurtet sehr schnelle Cabriolets pilotiert, darf eine Lebenserwartung von zirka 66 Jahren geltend machen. Und weil heutige Senior:innen gut und gerne 20 Jahre lang Rente beziehen, lautet die saubere Folgerung: Die ausschweifende Dame, der ausschweifende Herr darf künftig mit 46 in Rente gehen. Herren sogar vier Jahre früher, denn deren Lebens­erwartung ist schon seit Ewigkeiten rund vier Jahre kürzer. Für den Herrn eine herrliche Perspektive – ein wahres Gedicht.

Askforce Nr. 1087
21. August 2023