Frau B. K. aus H. beweist uns, dass der moderne Mensch fähig ist, sich vorsätzlich über die abstrusesten Sachen zu ärgern. Frau B. K. liest alle Todesanzeigen und schüttelt dabei häufig den Kopf. Sie kann nicht begreifen, dass laut diesen Anzeigen selbst Uralt-Seniorinnen und -Senioren «völlig unerwartet» versterben. Frau B. K. stört diese Formulierung: «Ab einem gewissen Alter muss man doch mit dem Unausweichlichen rechnen.»

Ab einem gewissen Alter ist es zunächst unausweichlich, rechnen zu lernen. Oberflächlich betrachtet ist Frau B. K.s Verwunderung über das «unerwartete Versterben» nachvollziehbar. In der Schweiz liegt ja die Lebenserwartung bei durchschnittlich 78,7 Jahren für Männer und bei 83,9 Jahren für Frauen. So gesehen hat B. K. nicht unrecht, wenn sie geltend macht, dass der zirka 78,7-jährige Senior und die 83,9-jährige Seniorin «erwartet» verstirbt. Anderseits haben alle früher oder später das Diesseits Verlassenden – mit Verweis auf die Statistik – ein gewisses Recht, für sich den «unerwarteten Hinschied» geltend zu machen.

Die Sache wird für Frau B.K. noch etwas komplexer, müssen wir doch darauf verweisen, dass das Erwartete ein wandelbares Ding ist. So mag es zwar sein, dass es zum heutigen Allgemeinwissen gehört, dass mit plus/minus 80 der Sensemann in Erwartungshaltung lauert. Aber bitte bedenken Sie: Unsere heute 83,9-jährige Seniorin, die statistisch gesehen «erwartet» versterben dürfte, ist im Jahr 1922 zur Welt gekommen. Sie hat also das Licht der Welt erblickt in einer Zeit, in der die Schweizer Statistik stolz die Brust schwellte, weil die durchschnittliche Lebenserwartung steil gegen die 60-Jahre-Grenze kletterte. So gesehen ist es das gute Recht unserer 83,9-Jährigen, sich zu wundern, sollte sie Jahrzehnte später als prognostiziert doch noch vom Unausweichlichen eingeholt werden.

Askforce Nr. 294
20. November 2006