Toxisch positiv
Martin Z. aus Niederscherli «nervt» sich über ein Phänomen, das er schmissig «toxische Positivität» nennt: «Alle reden nur von ‹Herausforderungen›, auch wenn sie grosse Probleme haben. Das ist auch eine Form von Verschleierung von Tat-sachen. Man verharmlost die Wahrheit mit einem Codewort.» Z. urteilt kate-gorisch: «Das ist unehrlich und in keiner Weise hilfreich für die Problemlösung.»
So weit, so wahr und klar, Herr Z. Die Frage kommt denn auch erst jetzt: «Wer hat das eingeführt?»
Lieber Herr Z., die Antwort ist simpel: Niemand. Wörter sind keine adligen Backfische*, die nach wochenlangem Hungern, unzähligen Kleideranproben, Comment- und Tanzstunden am Tag X am Debütantinnenball hochoffiziell eingeführt werden**. Nein, neu definierte Begriffe sind eher mit Cervelat-Promis zu vergleichen: Eines Tages tauchen sie aus dem Nichts auf, machen sich zuerst auf Gratisplattformen und in Internetkommentaren breit und hochglänzeln sich dann mit Gloria hinauf in die Illustrierten, bis männiglich glaubt, sie schon immer zu kennen.***
Die Frage, woher die belämmernde Mode – pardon, der anspruchsvolle Trend! – kommt, handfeste Schwierigkeiten in (scheinbar) überwindbare Herausforderungen umzudeuten, ist trotzdem spannend und wurde in der Askforce kontrovers disku-tiert: Eine erste Gruppe vermutete «grünteebekiffte Tantra-Engel aus dem Eso-Kuchen, die jedes Problem weglächeln», hinter der Begriffsverschiebung. «Unsinn», meinte die andere Fraktion. Die «Herausforderung» verdankten wir der Sportwelt: «Dort ist doch jeder Beinbruch eine ‹nicht optimalst gelaufene Tschällänsch›, und alles ist immer ‹total emotional›, egal, ob ein Sieg gefeiert oder eine Niederlage verarbeitet wird.»
Fast waren wir überzeugt. Da legte unser Börsenexperte die Zeitung weg, warf trocken «Gewinnwarnung» und «zeitnah» in die Runde und schob nach einer Kunstpause genüsslich «Langleberisiko» nach. Wir verstummten – und applau-dierten.
Herr Z., wir sagen es mit Bill Clinton: «It’s the economy, stupid!»
* @Millenials: Junge Cis-Frauen, heiratswillig
** Quelle: «Sissi», «Bridgerton» et al.
*** Es gibt Ausnahmen. Diktaturen neigen dazu, Sprache per Dekret zu
regulieren. Da wird dann etwa aus einem widerlichen «Angriffskrieg»
eine schier aseptische «Spezialoperation».
Askforce Nr. 1085,
7. August 2023