Müssen wir dürfen –oder gar dürfen wollen?

 «Wie kommt es», fragt Sabine A. aus Lyss, dass ihr die Praxishilfe vor dem Einstich für die Blutentnahme sage: «Jetzt dürfen Sie den Unterarm frei machen.»? «Schon zuvor», schildert Frau A., «als ich pünktlich eintraf, hiess es, ich dürfe noch einen Moment ins Wartezimmer!» Überall «dürfe» sie, als ob das Leben ein reines Zuckerschlecken wäre. «Müssen wir mittlerweile dürfen», fragt Sabine A. die Askforce. Oder «müssen wir eines Tages gar dürfen wollen?»

Um bei Ihren letzten Fragen zu beginnen, Frau A.: Natürlich müssen Sie wollen – wie alle Normalos! Denn jede und jeder hat Autoritäten über sich, ausser natürlich der Askforce, der letzten Instanz – der einzigen, die wirklich wollen will und kann! Dürfen wollen ist für Normalsterbliche wie Sie die Vorstufe des Müssen-Wollens. Wissen­schaftlich ausgedrückt: Der Bedarfswille ist die gnädige Vorhölle des Zwangswillens.

Doch zurück zu Ihrem Unterarm, Frau A. Haben Sie je ernsthaft erwogen, vor einer ärztlichen Untersuchung das Freimachen Ihres Unterarms zu verweigern? Also auf eine objektive Diagnose zu verzichten? Doch nicht! Denn wie sagte schon unser Haus­philosoph Friedrich Nietzsche in nüchterner Schärfe: «Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender Stände.» Als oberster Stand darf sich die Askforce hier allerdings guten Gewissens rühmen, von einem freien Willen schon gar nie gesprochen zu haben, denn: Es gibt ihn wirklich nicht!

Schon Franz Hohler sang 1996 in «S si alli so nätt!», er habe von seiner Hinrichtung geträumt. Vom Scharfrichter, der ihn fragte: «Dörfe mir Ihne die Binde um d’Auge legge?» Der Scharfrichter stand noch, ganz Gentleman, im Dienste seiner Opfer. Aber dies passt nicht in unsere Zeit. Der Askforce liegt ein Einladungsschreiben der Bundes­verwaltung vor, das ab 2045 an Menschen über 80 versandt werden wird: «Gerne dürfen wir Ihnen mitteilen, dass Ihre Abberufung aus Altersgründen gemäss Artikel 23 des Gesetzes für eine gesunde Demografie (GegeDem) auf übermorgen Mittwoch, 13. Dezember, angesetzt werden konnte. Sie dürfen sich somit um 08.00 Uhr bei unserem Herrn Guillotin-Sohlenthaler im Büro 256 einfinden. Er darf Sie anschliessend in unseren Finalisierungsraum begleiten. Zu diesem einmaligen Event dürfen Sie in sauberer und angemessener Unterwäsche erscheinen.» Da korrigiert die Askforce: «erscheinen wollen», selbstverständlich.

Askforce Nr. 1106
1. Januar 2024