Menschen, die auf Züge starren

Wie allgemein bekannt ist, baut sich der Wissensgrundstock aller Berner durch Texte eines bekannten Mundart-Troubadours auf. So überrascht es nicht, dass M. L. seine Anfrage auf Antwort folgendermassen eröffnet: «Dass man in der Isebahn so oder anders sitzen und schauen kann, nämlich in Fahrtrichtung oder in jene, aus der man kommt, ist mir seit Mani Matter bestens bekannt.» Seine Frage geht jedoch weit über die Sitzoptionen einer Zugreise hinaus. Er will wissen, wieso Leute, die auf dem Perron auf den Zug warten, stets in jene Richtung starren, aus welcher dieser kommen wird. «Als würde der Zug dadurch früher kommen», ätzt M. L.

Wenn es um Züge geht, hat die Ask-Force nur erstklassige Antworten auf Lager. So auch in diesem Fall. Um uns langsam an diese heranzutasten, muss zuerst die Sachlage genau umrissen werden. M. L. geht nämlich davon aus, dass Zugreisende stets wissen, aus welcher Richtung der Zug kommt, da sie ja konsequent in jene Richtung starren würden. Doch was, wenn man sich an einem fremden Bahnhof befindet, der an ein dem Passagier unbekanntes Zugnetz angeschlossen ist? Wie soll da in die richtige Richtung gestarrt werden? Da kann einem nicht einmal mehr Mani Matter helfen.

Da M. L. seine Beobachtung glaubwürdig schilderte, ist davon auszugehen, dass er diese an einem Bahnhof machte, an dem sich dieses Problem erübrigt. Nämlich an einem Kopfbahnhof wie zum Beispiel dem Wiener Westbahnhof oder Hamburg-Altona. Denn es ist mit grösster Wahrscheinlichkeit auszuschliessen, dass an solchen Bahnhöfen der Zug plötzlich aus einer anderen Richtung einfahren wird. So wissen die Passagiere stets, in welche Richtung gestarrt werden muss.

Doch wieso tun sie das? Es hat mit einer gewissen Erwartungshaltung zu tun, die zeigt, dass unser Zugswesen besser funktioniert, als oft behauptet wird. Denn Passagiere, die starren, hoffen, bald einen Zug in ihrem Sichtfeld erblicken zu können. Wenn sie nicht daran glaubten, dass dort jemals ein Zug auftauchen wird, würden sie wohl kaum starren.

Das zeigt, dass der Glaube an den Zug als Transportmittel bei der Bevölkerung in Takt ist. Starren kann also als wertschätzende Geste gegenüber dem Schienenverkehr verstanden werden.

Askforce Nr. 895,
4. März 2019