Kettenschmiere

Aufschrei! Auf alles und jedes folgt heutzutage der Aufschrei! Nichts ist dazu zu nichtig. «Menschsein heute» bedeutet: Ich aufschreie, also bin ich.

Löst etwas keinen Aufschrei aus, ja, dann muss man wirklich genauer hinschauen. Dann nämlich besteht Anlass zu Verwunderung und Sorge. Damit sind wir direkt beim heutigen Thema angekommen: beim Brotaufstrich namens Vegemite.

Diese hierzulande wenig bekannte, aber tatsächlich zum Verzehr zugelassene australische Streichmasse wird heuer 100-jährig. Darüber haben auch hiesige Medien berichtet. So schrieb die mit Tamedia liierte «Süddeutsche Zeitung» etwa, «Vegemite sieht aus wie Kettenschmiere und schmeckt auch so».

Ein Herr L. aus K. fragt nun, warum hier kein Aufschrei erfolge, keine wüste Leserbriefattacke geritten werde und kein Fäkalsturm viral gehe: «Wissen denn alle, wie Kettenschmiere schmeckt?» Die stumme Zustimmung der Massen zur Formel «Vegemite schmeckt wie Kettenschmiere» entsetzt unseren Fragesteller.

Die Askforce verzichtete zwar auf eine klärende Kettenschmiere-Degustation, ging aber – keinen Aufwand scheuend – im Herkunftsland des Aufstrichs auf Antwort­suche. Doch der Australier im Allgemeinen reagierte wenig hilfreich auf die Frage «g’day, does Vegemite taste like Kettenschmiere». Er schwärmte dann immer gleich von seinen Kettensägen.

Der langen Reise kurze Erkenntnis: Down Under ist die Antwort auf die Ketten­schmiere-Frage nicht zu finden, denn sie entspringt wohl eher dem hiesigen linksgrünen Vorstadtmilieu, wo man irrglaubt, die ganze Welt befasse sich mit Kettenschmiere, nur weil man sich eben selber auch die neuste Hose – rechts, am Innensaum – beim Velofahren bekleckert hat.

Die vertiefende Recherche bestätigt: Der kulinarische Zugang zu Ketten und Kettenschmiere ist tatsächlich ein rein europäischer – und geht auf den französischen Schausteller Michel Lotito alias Monsieur Mangetout zurück. Lotito hat, wie die Lebenshilfe­fibel «Guinness-Buch der Rekorde» festhält, zwischen 1966 und 1997 insgesamt 18 Fahrräder verspeist und urteilte: Die Fahrradkette schmeckt am besten.

Gemäss Lolito schmecken Fahrräder beim Verzehr einfach nach Fahrrad, egal, was Sie darauf schmieren. Bei Vegemite verhält es sich grundsätzlich umgekehrt. Der Eigengeschmack der beschmierten Unterlage ist angesichts der Geschmackswucht von Vegemite – einer salzigen Komposition aus Hefeextrakt, Gerstenmalz, Kaliumchlorid, Sellerie, Niacin, Thiamin – nicht mehr wahrnehmbar. Vermutlich macht genau das Vegemite so wertvoll: Kommt man mit dem Geschmack des Aufstrichs zurecht, bringt man alles runter. Vermutlich auch Fahrräder und Fahrradketten, geschmierte wie ungeschmierte.