Die Sache mit dem gesunden Menschenverstand
Aller Anfang ist schwer. So ist es auch beim Denken. Zum Glück zeigt sich unsere Gesellschaft mit darin Ungeübten solidarisch und stellt ihnen einen geschützten Rahmen zur Verfügung, um sich in der Welt der Gedanken auszuprobieren. Im Fachjargon bezeichnen wir diesen Ort als Leserkommentarspalte. Die heutige Fragenstellerin, Eva Z., liest oft mit, wenn zarte Gehversuche im Umgang mit eigenen Gedanken unternommen werden. Dabei stiess Eva Z. regelmässig auf diesen Ausdruck: gesunder Menschenverstand. Nun will sie wissen, was wir von ihm halten.
Wie so oft beginnt unsere Antwort in den Aussenbezirken des Wissens und führt auf schnellstem Wege ins Wohnzimmer der Erleuchtung. Beginnen wir mit dem einfachen Teil, dem Menschenverstand. Der Begriff fällt zunächst durch seine dezidierte Distanzierung von unseren animalischen Freunden auf. Nicht ohne Grund. Denn Tieren fehlt es oftmals an Denkvermögen, um komplexe Entscheidungen zu treffen. Beispiel: Plant das Pazifische Walross an einem hohen katholischen Feiertag in Italien eine Zugreise zu unternehmen, wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht auf den Gedanken kommen, eine Sitzplatzreservierung zu tätigen.
Haben Sie begriffen, weshalb Sie dem pazifischen Walross niemals die Reiseplanung überlassen sollten? Dann gratulieren wir Ihnen. Sie verfügen über Menschenverstand und haben dessen Grundstrukturen begriffen. Jetzt kommen wir zum schwierigen Teil. Wann ist der Menschenverstand gesund? Um mehr darüber zu erfahren, buddeln wir den alten Shakespeare aus. Dieser schrieb in «Hamlet»: «An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.»
Glücklicherweise haben sich Teile der Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten gedacht, es sei keine schlechte Idee, in Frieden und Gleichheit zusammenzuleben. In der modernen Welt hat sich diese Auffassung längst als gesellschaftliche Grundlage etabliert. Weil das Erklären via Beispiel weiter oben so gut geklappt hat, bedienen wir uns ein weiteres Mal dieser Methode: Ein Kind hat Geburtstag und lädt zum Fest seine ganze Schulklasse ein. Es ist ein inklusiver Akt, der den Glauben an das Gute im Menschen voraussetzt.
Doch leider ist das menschliche Denken keine humanitäre Einbahnstrasse. Zur Veranschaulichung greifen wir auf obiges Beispiel in leicht abgeänderter Form zurück. Ein Kind hat Geburtstag und wird in einem Vernichtungslager systematisch ermordet. Auch der Einfall eine solche Gräueltat zu veranlassen, ist dem menschlichen Gehirn entsprungen – paradoxerweise ebenfalls aus der Überzeugung, dadurch die Gesellschaft gesünder zu machen.
Wegen dieser Variabilität des menschlichen Denkens ist der gesunde Menschenverstand mit höchster Vorsicht zu geniessen. Denn er richtet sich immer nach der Perspektive auf die Gesellschaft des denkenden Menschen. Zwar kann der Begriff durchaus im Sinne der Menschlichkeit benutzt werden, aber auch, um schlimme Ideen in der Mitte der Gesellschaft zu normalisieren. Zugehörige Beispiele finden Sie mit höchster Wahrscheinlichkeit in der nächstgelegenen Kommentarspalte.
Askforce Nr. 1128
27. Mai 2024