Die Muskeln der Majuskeln
In Mails zeigen Majuskeln – also Grossbuchstaben – oft ihre Muskeln. Meist ist es peinliches Geprotze. Wir lesen Passagen wie: «…ich erwarte NOCH HEUTE Ihre Antwort, ALSO SOFORT, sonst werden EINSCHNEIDENDE Massnahmen – absolut! – UNAUSWEICHLICH!!!» Es ist dies die Kultur des «schriftlich Anschreiens».
Einen völlig anderen, sittsameren Umgang mit Majuskeln pflegt der Berner namens Benjamin H. Allerdings ist er arg verunsichert. Und zwar so sehr, dass er sich hilfesuchend an die Askforce wendet. Seine Frage: «Will ich eine Feststellung eintippen, MUSS ICH DA DIE FESTSTELLTASTE DRÜCKEN?»
Die Askforce hört ihre innere Stimme sagen: Spricht da ein Caps-Lock-Dilettant, der mit Blick auf den Bildschirm rätselt, warum plötzlich ganze Textpassagen GROSSBUCHSTABIG DAHERKOMMEN? Spricht da einer von zartem Gemüte, der nach solchen Demütigungen seinem Tagebuch schriftlich schreiend anvertraut: WARUM PASSIERT DAS IMMER MIR?
Sowohl «MUSS ICH DA DIE FESTSTELLTASTE DRÜCKEN?» wie auch «WARUM PASSIERT DAS IMMER MIR?» sind naturgemäss keine FESTSTELLUNGEN, sondern FRAGEN. Und Fragen kann die Askforce beantworten. Sie rät hier zum saloppen Umkehrschluss: Ausgehend von der Feststellung, dass GROSSBUCH-STABIGES selten Feststellungen enthält, darf sich Benjamin H. von der Pflicht befreit fühlen, für seine Feststellungen die Feststelltaste zu drücken. Er darf die Feststelltaste ab dato als das sehen, was sie ist: ein archäologisches Souvenir aus dem Zeitalter der mechanischen Schreibmaschine.
Hier – etwas nach der Mitte einer Askforce-Antwort – folgen in der Regel ein, zwei belehrende Absätze, bei deren Lektüre Leser:innen denken: «HENNEGUET!» oder «ürgendwie intrssant» oder zumindest «Hmmm!». Heute: GROSSBUCHSTABEN haben im deutschen Sprachraum seit jeher die Gabe, schuldlose Schüler:innen zu quälen und unbescholtene Erwachsene wie Benjamin H. zu verunsichern. Unvertraute Majuskeln führen deshalb rasch zu Gemütswallungen. Wie 1981, als das Binnen-I erfunden wurde, um den depperten Schrägstrich abzulösen: also ExpertInnen statt Expert/innen. Oberlehrer/innen bezeichneten damals das Binnen-I als «Erektion im Text» (was uns Firmennamen wie BernMobil oder PostAuto ganz neu sehen lässt).
RÜHREND IST, wie viele heute irrenderweise meinen, die Majuskel-Debatte sei eine moderne. Dabei hat bereits Martin Luther (1483–1546) an der Gutenberg-Presse seine Sprache mit einer Grossbuchstaben-Marketing-Masche aufgeladen.
Echt wahr: Er erfand den Doppelmajuskel und liess etwa den Begriff «HErr» setzen. Oder – gar mit Vierfachmajuskel – «HERR». Luther wollte so die Wirkmächtigkeit des Wortes erhöhen. Religionsgeschichtlich übrigens ein voller Erfolg. Denn was sagt und tippt die heutige Jugend mit frommem Gemüte? Genau: OMG!
Askforce Nr. 1166,
17. Februar 2025