Der Schweizer und das Meer

Alinghis America’s-Cup-Triumph verwirrt Frau Dora T. Weil wir über kein Meer verfügten, wirke der Sieg künstlich, erkauft, nicht wirklich glaubwürdig. Eine Frage quält Dora T.: «Vielleicht müssten wir uns tatsächlich ein Meer zulegen?»

Das Leiden von Dora T. ist grundlos. Die Schweiz war und ist die erfolgreichste Meeresnation. Ein einziges Dilemma hat die Schweiz: Sie kann sich ihr Meer und ihre Berge aus Platzgründen nicht gleichzeitig leisten. Darum hat sie die Strategie entwickelt, die Dinge zeitlich zu staffeln. So offerierte die Tourismusnation Schweiz beispielsweise vor 230 Millionen Jahr im Tessin nicht nur die schönsten subtropischen Strände, sondern liess dort auch den Pachypleurosaurus gedeihen, also die Vorgängerechse von Lacoste. Früh erkannte hier die Schweiz das Geschäftspotenzial (Krokodillederschuhe, Bekleidungsindustrie), hatte aber Schwierigkeiten, die Sache rechtzeitig ins Trockene zu bringen.

Der Entscheid, den tektonischen Migrationsdruck aus Afrika zu verstärken, erlaubte dann aber den Abfluss des Meeres, die Auffaltung der Alpen und die Anstellung des «Postillions vom Gotthard». Natürlich ist es auch etwas schade, dass die Schweiz im Moment eine meeresfreie Phase durchlebt.

Immerhin ist das erwähnte Tessinermeer aus der Triaszeit das einzige Meer, das zwar nicht mehr existiert und dennoch das Gütesiegel eines Unesco-Weltkulturerbes trägt: San Giorgio bei Riva San Vitale – samt all seinen versteinerten Schleimern und Kriechern. Ausserdem stehen die Chancen gut, dank der Klimaerwärmung in absehbarer Zeit wieder die Stärken als Mittelmeeranrainerstaat auszuspielen.

Sie sehen, Dora T., die Schweizer Meere sind niemals bloss Geschichte. Sie sind im kollektiven Erbgut der Schweizer genetisch verankert. Das ist ablesbar an der natürlichen Autorität, mit der Schweizerinnen und Schweizer praktisch alle Strände aller Meere dieser Welt regelmässig in Beschlag nehmen – im Wissen, dass sie selbst dort die an sich Einheimischen sind.

Das führt zwar gelegentlich zu fatalen Missverständnissen. Als die Medien am Tag nach dem Tsunami den gut gebauten Schweizer Paul H. mit seinem Bierchen am von Tod und Trümmern gezeichneten Patong Beach zeigten, reagierte die Weltpresse mit Unverständnis und Entsetzen: «Der Biertrinker vom Todesstrand». Was übersehen wurde: Hier wirkte nur die Unerschrockenheit nach, ohne die ein paar hundert Millionen Jahre früher in der pachypleurosaurusverseuchten, marinen Schweiz nichts und niemand überlebt hätte.

Askforce Nr. 324,
9. Juli 2007